Während die USA auf das Modell „Wohlstand ohne Wohlfahrt“ und China auf „Wohlstand gegen Wohlverhalten“ setzen, heißt der europäische Weg aus der Krise „Wohlstand plus Wohlfahrt“. Der neue Systemwettbewerb findet in Zukunft zwischen zwei Gesellschaftsmodellen statt: China versus Europa. China nutzte in der Krise seine Disziplin und vertikale Machtstruktur, Europa seinen adaptiven, sozialen Individualismus. Damit kann der Corona-Schock schaffen, was nach der Finanzkrise vor zehn Jahren noch undenkbar war: den solidarischen und souveränen Staatenbund Europa.
Zu den Lehren der Corona-Pandemie gehört, dass Gesundheitsfragen auch Sicherheitsfragen sind. Sicherheit erhält eine neue Komponente: Gesundheitssicherheit (Health Security). Öffentliche Gesundheitsfürsorge (Public Health) wird in Zukunft nicht allein national zu organisieren sein. Gesundheitskrisen überschreiten zunehmend Grenzen und haben das Potenzial gleichzeitig zu wirtschaftlichen, sozialen und politischen Krisen zu werden. Die Stärkung der mentalen und sozialen Widerstandsfähigkeit wird wichtiger, Gesundheitspolitik zunehmend Teil der europäischen Sicherheitspolitik. Europa braucht mehr Eigenständigkeit im Gesundheitsbereich. Dazu gehören eine europäische Seuchenbehörde nach dem Vorbild des Robert-Koch-Instituts, eine europäische Impfstoff- und Pandemiestrategie, gut ausgebildetes Gesundheitspersonal, öffentlich-private Partnerschaften mit der Industrie sowie der Austausch von Daten und der Einsatz von digitalen Lösungen. In der Datenfrage hinkt Europa am meisten hinterher.
Demokratie, Digitalisierung und Dekarbonisierung
Wenn Europa seine Souveränität auch in Zukunft gegenüber China und den USA bewahren will, muss es die Macht des Digitalen verstehen. Die entscheidende Frage ist, wer über die in Europa generierten Daten verfügt: China, die USA oder Europa selbst? Mehr als 90 Prozent der privaten und beruflichen Daten Europas befinden sich auf amerikanischen oder chinesischen Servern. Europa muss stärker und digitaler werden. Es geht um ein neues und umfassendes Verständnis von Sicherheit: Demokratie, Digitalisierung und Dekarbonisierung sind die zentralen Herausforderungen der nächsten 30 Jahre. Die neue Kommission mit Ursula von der Leyen will beide Themen, die Dekarbonisierung der Wirtschaft und die Digitalisierung, zum zentralen Thema für den Wiederaufbau der Wirtschaft nach Corona machen. Die Kreislaufwirtschaft ist dabei das zentrale Element, um unabhängiger von Rohstoffen und Vorprodukten aus Drittstaaten zu werden. Eine CO2-Grenzsteuer und eine stärkere Besteuerung von digitalen Plattformen werden die Transformation hin zu einer klimaneutralen und digitalisierten Zukunft beschleunigen – und neue und vor allem eigene Einnahmen für die EU generieren. Gesundheits- und Klimaschutz werden zum gemeinsamen Projekt. Länder, die klima- und gesundheitsfeindlich produzieren, sollen nach dem Willen von der Leyens an den Außengrenzen mit hohen Zöllen belegt werden.
Europe: The best place to be!
Bleibt die Zukunft der Demokratie. Europa kann nur als wertebasierte politische Union überleben. Statt auf autoritäre Kontrolle (China) und kommerzielle Monopole (USA) muss der europäische Weg auf Freiheit, Solidarität und föderale Demokratie setzen. Es geht um die Stärkung der Individuen, umfassende Sicherheit und um eine Gesellschaft, in der alle teilhaben können. Europa kann zum attraktivsten Lebensstandort weltweit werden. Vor 15 Jahren hat der US-Ökonom Jeremy Rifkin den langsamen Tod des amerikanischen und das Entstehen eines europäischen Traums prognostiziert. Die Verwirklichung dieses Traums ist näher als wir glauben: Europe, the best place to be!
Daniel Dettling ist Jurist, Verwaltungs- und Politikwissenschaftler sowie Zukunftsforscher. Er leitet das Institut für Zukunftspolitik mit Sitz in Berlin. Für Globality Health ist er als Kolumnist tätig und schreibt regelmässig über Megatrends und aktuelle Themen.